Bist du ein:e Kriegsenkel:in?

Geboren ungefähr zwischen 1960 und 1980?  - Dann bist du vielleicht ein Kriegsenkel und trägst womöglich Traumata deiner Großeltern.

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Ich mag den Begriff "Kriegsenkel". Er ist natürlich nicht von mir, sondern von einer Autorin, die ich sehr schätze - Sabine Bode. Ihre Bücher "Kriegskinder" und "Kriegsenkel" waren lange auf der Spiegel-Bestseller-Liste, und sie hat mit ihren Recherchen und Interviews, die darin veröffentlicht sind, viel dazu beigetragen, dass dieses Thema öffentlich wurde.
Durch die Traumaforschung und die Ergebnisse der sog. Epigenetik verstehen wir heute viel besser, wie es sein kann, dass unverarbeitete Erlebnisse der Großeltern aus einem Krieg, der über 60 Jahre zurückliegt, eine Wirkung auf die Nachkommen haben kann, in diesem Fall sogar auf die Enkel!  Denen geht es ja eigentlich gut, sie sind im Wohlstand aufgewachsen, und es hat ihnen (materiell) an nichts gefehlt. Um so mehr fühlen sie sich oft schuldig, weil sie sich so lange mit diffusen Gefühlen herumplagen, nicht genau zu wissen, wer sie sind und wohin sie wollen. Sie suchen die Fehler erstmal bei sich, sind oft sehr loyal, stehen häufig unter einem enormen inneren Leistungsdruck und versuchen die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Doch was ist da "schief" gelaufen"?

Trauma bedeutet Verletzung, Schock oder Wunde
Ohne allzu tief in die Psychologie einzusteigen, versuche ich hier, das mal in einfachen Worten zu erklären. Und ich starte mal mit einer Definition des Begriffs Trauma. Das bedeutet nämlich "Verletzung, Schock oder Wunde". Und so verwende ich das hier auch. Mit Trauma meine ich hier eine seelische Verletzung. Z.B. durch das Erleben von direkter Gewalt, aber auch dadurch, dass ein Mensch vielleicht Gewalt mit ansehen oder existentielle Ängste durchstehen musste. Verletzt werden wir aber auch, wenn wir uns nicht zugehörig fühlen, wenn wir ausgeschlossen, nicht wahrgenommen oder abgewertet werden. Und ebenso, wenn wir nicht gespiegelt und in unseren Grundbedürfnissen nach Liebe, Zuwendung und Bestätigung angenommen werden. 

Wie kommt es, dass Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden können?
Als Kinder erfühlen wir als feine, empathische Wesen offenbar sehr genau, wie es unseren engen Bezugspersonen, meistens den Eltern geht. Gerade kleine Kinder sind von den Eltern abhängig, und um Mama und Papa nah zu sein, verschmelzen sie und erleben deren Gefühle und damit auch deren unverarbeitete und übernommene Traumata als ihre eigenen. Kriegsenkel wachsen wir mit traumatisierten Eltern auf, denn sie hatten Eltern, von denen viele durch den Krieg traumatisiert waren. Für die Kriegskinder - unsere Eltern - hieß das ganz konkret, dass sie in ihrer Kindheit mit wenig Zuwendung, Liebe, Nähe und Empathie ihrer Eltern auskommen mussten. Stattdessen war ihr Aufwachsen von Funktionieren, Disziplin und Gehorsam geprägt. Das hat viele von ihnen in ihrer Seele verletzt und in ihrem Selbstwert erschüttert. Viele haben gelernt, damit zu leben, indem sie die Strategien der Eltern übernommen haben: sich von sich und den belastenden Gefühlen distanzieren, wenig spüren. Zum einen, weil fühlen als zu schmerzlich empfunden wird, zum anderen, weil sie schlichtweg nichts anderes gelernt haben und es sich somit auch irgendwie "richtig" anfühlte.


Das alles zu entwirren, braucht Zeit und Geduld

Oft ist es die übernächste Generation, also die Enkelgeneration, denen dieser Rahmen zu eng wird, die sich dagegen auflehnen und sich für ihr Leben und für ihre Kinder etwas anderes wünschen. Gut so! Ich freue mich immer, wenn jemand diese Zusammenhänge für sich entdeckt und sich davon lösen möchte. Ich erlebe dabei immer wieder, wie hilfreich es ist, möglichst viele Fakten zu kennen. Wo genau waren die Großeltern während des Krieges, was haben sie gemacht? Welche Geschichten werden in der Familie erzählt oder auch verschwiegen, was lässt sich heute vielleicht sogar noch bei lebenden Verwandten wie Tanten, Onkel, Cousinen etc.  erfragen oder recherchieren. Aber wer sich auf diesen Weg macht, sollte auch wissen:  Es braucht Zeit und viel Geduld, um die Traumata der Eltern und Großeltern aufzudröseln, deren Auswirkungen auf den Lebensweg anzuerkennen und auch noch zu sortieren, welche Spuren das bei uns hinterlassen hat. (Wenn du mehr dazu wissen, möchtest - hier findest du meinen kostenlosen Online-Dreiteiler zum Thema Aufstellungsarbeit.)

Gesunde Abgrenzung lernen - das tut oft erstmal weh
Hier in eine gesunde Abgrenzung zu kommen, ist nicht zuletzt deshalb so schwierig, weil es etwas von uns fordert, was aus der Perspektive des verletzten Anteils in uns übermenschlich erscheint: Nämlich erstmal aufzuhören, sich anzustrengen und mit viel Kraft und Energie um die Liebe und Zuwendung der Eltern zu "buhlen". Sondern erstmal gilt es anzuerkennen: "Hier, in meiner Familie war emotional wenig zu holen. Und obwohl es so war, habe ich überlebt und bin jetzt erwachsen. Ich kann jetzt Schritt für Schritt lernen, selbst dafür zu sorgen, dass ich das bekomme, wonach ich mich sehne und was mir auch zusteht".

In
Aufstellungen sehe ich häufig, wie sich Ruhe, Frieden, Heilung und die ersehnte Freiheit, einen eigenen Weg zu gehen,  genau dann einstellen, wenn jemand in der Lage ist, die Geschichte und die Traumata seiner Eltern und Großeltern vollständig anzuerkennen. Dazu gehört es,  den übernommenen Schmerz zurückzugeben und sich vor der Überlebensleistung, die alle erbracht haben, tief zu verneigen.
Das macht den Weg frei für die eigenen Werte und das eigene Erleben.


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